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          Nachruf

          Trauer um Professor Dr. Dr. Erhard S. Gerstenberger

          © privatPortraitProfessor Dr. Dr. Erhard S. Gerstenberger

          Der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg trauert um Prof. i.R. Dr. Dr. Erhard S. Gerstenberger, der am 15. April 2023 im Alter von 90 Jahren verstarb.

          Der Fachbereich verliert damit einen ungewöhnlichen Forscher und inspirierenden Lehrer, die alttestamentliche Fachwelt einen international geschätzten Kollegen. Erhard S. Gerstenberger wurde am 20. Juni 1932 in Rheinhausen geboren und wuchs in einer Bergmannsfamilie auf. Nach dem Krieg fand er zur Kirche und entschied sich 1952 für ein Studium der Evangelischen Theologie, das er an den Universitäten Marburg, Tübingen, Bonn und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal absolvierte.

          In Wuppertal war er 1957–1959 Vikar und zugleich wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Hans Walter Wolff. Ein Stipendium des Weltkirchenrates führte ihn 1959 an die Yale Divinity School, New Haven, CT, an der er bis 1964 forschte und lehrte. Die Dissertation über „Wesen und Herkunft des ‚apodiktischen‘ Rechts“ reichte er jedoch bei Martin Noth und Otto Plöger 1961 in Bonn ein. Von 1965–1975 arbeitete Erhard Gerstenberger als Gemeindepfarrer in Essen-Frohnhausen, unterbrochen in den Jahren 1969–1970, in denen er sich in Heidelberg mit einer Studie zu „Bittritual und Klagelied des Einzelnen im Alten Testament“ habilitierte.

          1975–1981 lehrte Erhard Gerstenberger Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in São Leopoldo (Brasilien), wo er mit der Befreiungstheologie in Berührung kam. 1981 wurde er zum Professor für Altes Testament an die Justus-Liebig-Universität Gießen, 1985 an die Philipps-Universität Marburg berufen, wo er bis zu seinem Ruhestand 1997 lehrte.

           

          Von der sumerischen Hymnenliteratur bis zur feministischen Hermeneutik

          Weit entfernt davon, sich zur Ruhe zu setzen, führte Erhard Gerstenberger seine in Yale begonnenen altorientalistischen Studien fort und wurde 2014 mit einer Arbeit zur sumerischen Hymnenliteratur in Marburg im Fach Altorientalistik promoviert. Die mehrfachen Paradigmenwechsel seines bewegten Lebens auf drei Kontinenten, in Hochschule und Gemeinde, prägten die theologischen Einsichten Erhard Gerstenbergers nachhaltig. In den frühen 1960er Jahren erlebte er den US-amerikanischen Pragmatismus mit einer Öffnung hin zu säkularen Wissenschaften, die Diversität verschiedener christlicher Denominationen wie auch die Bürgerrechtsbewegung und die Welt der Navajo im Reservat. Die Arbeit in der Essener Gemeinde und an der Lutherischen Hochschule in Brasilien war vom Blick nicht nur auf die Welt der Bibel, sondern auch auf die Erfahrungswelt der Rezipient:innen und deren spezifischen Lebenskontexten geprägt. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen war ihm der „Realitätsbezug alttestamentlicher Exegese“ (so ein Aufsatztitel von 1985) in Forschung und Lehre überaus wichtig. Zurück in Deutschland engagierte er sich für die lateinamerikanische Befreiungstheologie, den Austausch von Studierenden mit São Leopoldo, und, als einer der ersten männlichen Professoren, für feministische Theologie. Auf seine Anregung hin gründete eine Gruppe von Nachwuchswissenschafterinnen in Marburg das Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt zur feministischen Hermeneutik und Methodik des Ersten Testaments (1990–2010).

          Nach seiner Pensionierung war er Mitinitiator des befreiungstheologischen Lesekreises am Fachbereich, dessen Mitglieder aus mehreren Generationen von Studierenden ihm zur Feier seines 90. Geburtstag mit bewegenden Worten für sein Engagement dankten und zum gemeinsamen Singen anregten. Seine jahrzehntelange und vielseitige Vortragstätigkeit führte Erhard Gerstenberger in Gemeinden, Pfarrkonvente und Akademien, aber auch, auf dem Weg zum jährlichen Annual Meeting der Society of Biblical Literature, in zahlreiche US-amerikanische Hochschulen.

           

          Übersetzer für die „Bibel in gerechter Sprache“

          Erhard Gerstenbergers wissenschaftliches Werk ist vielfältig, weitgreifend und kontextuell. Seine Qualifikationsarbeiten zum alttestamentlichen Recht und den individuellen Klagepsalmen bilden Meilensteine hinsichtlich der Formgeschichte biblischer Texte, die Gerstenberger später zur sozialgeschichtlichen Analyse ausweitete. Ihre Auslegung wird fortgeführt in Kommentaren zum Buch der Psalmen (2 Bände FOTL, 1988 und 2001) sowie zu Leviticus (ATD, 1993; engl. OTL, 1996). Die Monographie „Theologien im Alten Testament“ (2001; engl. 2002; ital. 2005; portug. 2007) arbeitet die Vielfalt und Vielschichtigkeit alttestamentlichen Gottesglaubens heraus. Im Band „Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jahrhundert v.Chr.“ (BE 8, 2005) wird die Geschichte und Relevanz des Perserreiches für das Alte Testament deutlich. Seine frühen Studien „Frau und Mann im Alten Testament“ (zusammen mit W. Schrage, 1980) und „Jahwe – ein patriarchaler Gott? (1988; engl. 1996) sind Erstlingsfrüchte feministischer Interpretation in Deutschland. Für die „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzte er das Exodusbuch. Viele seiner zahlreichen Aufsätze wurden ins Englische, Spanische und Portugiesische übersetzt und er selbst übersetzte Werke von James Barr und Joseph Blenkinsopp vom Englischen ins Deutsche.

           

          Dekan in Marburg

          Am Marburger Fachbereich Evangelische Theologie war Erhard Gerstenberger stets engagiert und präsent; von 1993 bis 1994 leitete er ihn als Dekan. Mit Verve förderte er Frauen auf allen Karrierestufen und setzte sich für die Berufung von Professorinnen ein. Bis zum letzten Semester nahm er oft am alttestamentlichen Oberseminar teil, zuletzt online zugeschaltet. Im Kontakt und im Gespräch zu bleiben, sich über die Generationen hinweg zu Glauben und Theologie sowie deren Bedeutung für den Alltag und den jeweiligen Lebenskontext auszutauschen, war Erhard Gerstenberger stets ein wichtiges Anliegen – in der akademischen Welt und privat. Mit seiner Frau Rita war er über 50 Jahre verheiratet; sie hatten drei Kinder und sieben Enkel; Rita ist 15 Tage vor ihrem Mann gestorben.

          Der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg wird Erhard Gerstenberger als einem Bibelwissenschaftler mit weitem Horizont und inspirierenden Lehrer ein ehrendes Andenken bewahren. Unser Mitgefühl gilt seinen Angehörigen, seinen Schüler:innen, seinen akademischen und kirchlichen Weggefährt:innen in aller Welt.

          Die Trauerfeier für Rita und Erhard Gerstenberger findet am Samstag, 29. April 2023 um 11 Uhr in der Kapelle auf dem Alten Friedhof in Gießen statt.

          Kondolenzschreiben bitte an: Kondolenz.Erhard.Gerstenberger@gmail.com

           

          Prof. Dr. Christl M. Maier, Prodekanin, Professorin für Altes Testament

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