Evangelisch im Gießenerland

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    Ein Reisebericht aus dem Krieg

    Normalität plus Bomben in Kiew

    PrivatEin Mann und drei Frauen unter großem KruzifixPfarrer Dr. Achim Reis im Sonntagsgottesdienst

    „Normalität plus Bomben“ hat der Muschenheimer Pfarrer Dr. Achim Reis Anfang August in Kiew erlebt. Aus seinem früheren Wirkungsort als evangelischer Seelsorger in der Hauptstadt der Ukraine hat er einen Bericht aus einem Land im Krieg mitgebracht. Darin schildert er Ausnahmesituationen wie Sperrstunden und Luftalarm, aber auch das normale Leben in der Kirchengemeinde mit Sonntagsgottesdienst und Kirchenvorstandssitzung.

    Bildergalerie

    Kleine Mädchen vor Einer Wand mit Fotos Rostige Autowracks und ein grünes Auto mit Friedenstauben auf dem Lack

    Normalität plus Bomben

    Mit meinen Kiewer Gesprächspartnern bin ich schnell einig, dass sich die gegenwärtige Situation in der Stadt auf diese Formel bringen lässt. Auf den Straßen geht es hektisch-geschäftig zu, die Geschäfte bieten alles, was man braucht, die Cafés und Gaststätten sind gut besucht. Das Leben pulsiert. Man merkt kaum einen Unterschied zu früher. Aber nur bis gegen 23 Uhr. Von 0 bis 5 Uhr ist „Komandandska Hodina“, ist Sperrstunde, da ist der Aufenthalt außer Haus verboten, da heißt es also rechtzeitig in der Wohnung anzukommen, noch die letzte Metro zu erwischen. Die Normalität vordergründig.

    Die Aufträge bleiben aus

    Und sie fehlt ganz, wenn etwa der Betreiber eines kleinen Unternehmens berichtet, dass für seinen zuvor erfolgreichen Modellbau- und Ladeneinrichtungsbetrieb WokaWoka seit Kriegsbeginn alle Aufträge weggebrochen sind. Wolodimyr alias Wladimir Valdman-Kusjnanz hofft jetzt inständig auf die Realisierung eines bereits zugesagten GIZ-Projekts, ansonsten sieht die Zukunft düster für ihn aus. So wie bei vielen anderen Unternehmen, denen der Krieg die Luft abschnürt. Dazu kommt noch das Damoklesschwert der Einberufung zum Militär: Das kann Männer zwischen 18 und 60 nahezu jederzeit treffen. 

    Permanente Gefährdung

    Die Normalität ist vordergründig. Und es sind nicht nur Bomben, die Angst machen. Lenkbomben, Raketen und Drohnen gefährden die Stadt und die Menschen in ihr. Unweit von WokaWoka sind sie unlängst eingeschlagen, haben die Scheiben im Firmengebäude bersten lassen.

    Fünf Nächte haben Christian Weise, Übersetzer aus dem Ukrainischen ins Deutsche, und ich, Achim Reis, Pfarrer der EKHN, in der ukrainischen Hauptstadt zugebracht. Wir reisen im Auftrag des Gustav-Adolf-Werks. In den ersten drei Nächten und am letzten Tag gibt es Luftalarm: Die Sirenen in der Stadt heulen und die Regierung der Ukraine sendet eine Gefahrenmeldung aufs Handy. Anscheinend sind diesmal keine Schäden zu beklagen.

    Lesegottesdienste für die Kirchengemeinden ohne Pfarrer

    Wir beide sind nach Kiew gereist, um die dortige lutherische Gemeinde zu besuchen. Von 1992 bis 1996 war ich der Pfarrer dieser Gemeinde, seitdem ist der Kontakt nicht abgebrochen. Und seit Kriegsbeginn schickt ein Kreis ehemaliger Gemeindepfarrer Lesegottesdienste in die Stadt am Dnjepr, um das gottesdienstliche Leben der Lutheraner zu unterstützen - aktuell gibt es keinen eigenen Gemeindepfarrer. Von Zeit zu Zeit kommt einer aus dem Kreis der ehemaligen vorbei und bleibt ein Wochenende oder - zu Weihnachten und zu Ostern - auch länger, um der Gemeinde zu signalisieren: Ihr seid nicht vergessen.

    Geborstene Scheiben und ein Trauerzug

    Christian Weise und ich kommen am Morgen des 31. Juli mit dem Nachtzug aus Lemberg in Kiew an. Lisa Safonowa, die Gemeindesekretärin, holt uns ab und fährt uns zu unserem Hotel, der Pilgerherberge im Michaelskloster. Vorbei geht es am Samsung Hochhaus, dessen Scheiben zum großen Teil von der Druckwelle bei einer nächtlichen Explosion geborsten sind. Und kaum, dass wir im Kloster angekommen sind, werden wir Zeugen einer Trauerfeier: Ein junger Soldat wird von Familie und Kameraden verabschiedet, der Sarg hernach zum Friedhof gefahren. An den folgenden Tagen sehen wir weitere Trauerfeiern für Gefallene, die Außenmauern des Klosters sind mit vielen tausend Portraits gestorbener Soldaten übersät.

    Fronturlaub und Urlaub auf Sizilien

    Am nächsten Mittag treffe ich mich mit Katja und ihrem Mann Dima in einem Café nahe der Andreaskirche, einem touristischen Hotspot. Katja war vor einen knappen Vierteljahrhundert unser Kindermädchen. Dima hat gerade Fronturlaub, er ist gesundheitlich angeschlagen. Die Tochter der beiden bereist zur selben Zeit mit einer Freundin Sizilien.

    Bis zum Gottesdienst am Sonntag folgen noch viele Begegnungen, es ist jeweils ein herzliches Wiedersehen. Die Kontakte sind lebendig wie eh und je. Zuletzt war ich zum Reformationsjubiläum im Kiew gewesen, die Stadt hat sich seitdem spürbar weiterentwickelt - nicht nur zum Guten. Die Bausünden haben sichtbar zugenommen.

    Eine kleine Gottesdienstgemeinde

    Zum Gottesdienst haben sich in vergleichsweise kleiner Besetzung die Kerngemeinde und der Chor - eigentlich auch er Kerngemeinde - versammelt. Im August sind viele Gemeindeglieder auswärts auf ihren Datschen - oder weiter in Westeuropa, wo sie seit dem russischen Überfall als Flüchtlinge ausharren. Insbesondere nach München hat es einige verschlagen - die evangelische Kirche der bayrischen Landeshauptstadt pflegt seit Anfang der 90er Jahre enge Kontakte zur Kiewer Gemeinde.

    Der 4. August ist der 10. Sonntag nach Trinitatis, der Israelsonntag. In der Predigt thematisiere ich unter anderem die Allversöhnungslehre (Römer 11,32: Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme). Gelten Versöhnung und Erbarmen sowohl den Lagerinsassen von Auschwitz als auch ihren SS-Schergen? Den Gedanken zum künftigen Verhältnis von Ukrainern und Russen weiterzuspinnen, überlasse ich den Zuhörern.

    Persönliche Begegnungen nach dem Gottesdienst

    Nach dem Gottesdienst ist bei Tee, Kaffee und Plätzchen Gelegenheit zur persönlichen Begegnung. Ein bisschen wird in Erinnerungen geschwelgt, gefragt wird aber auch nach den Perspektiven für die Gemeinde.

    Ein rüstiger Ruheständler für die Pfarrstelle?

    Ob die Pfarrstelle in Kiew nach dem Krieg wieder regulär besetzt werden kann, erscheint einstweilen als offen: Mit Kriegsausbruch hat der letzte Stelleninhaber die Gemeinde verlassen, inzwischen hat sich in Deutschland bei den Pfarrern die Situation weiter verschärft, es gibt zu wenig Nachwuchs. Da werden Gemeinden wie die Kiewer hintanstehen müssen. Vielleicht lässt sich ein rüstiger Ruheständler für die Aufgabe gewinnen.

    Finanzielle Sorgen im Kirchenvorstand

    Diese Frage bewegt auch im Kirchenvorstand. Mit ihm treffe ich mich nach der Gemeindebegegnung. Finanzielle Sorgen kommen zur Sprache: Die Regierung hat die Energiekosten drastisch erhöht, nun ist unklar, wie die Gemeinde durch den Winter kommen soll. Ich überreiche vor Ort einen ersten Betrag und sage weitere Hilfe durch das Gustav-Adolf-Werk zu. Wie weit die gehen kann, hängt von den Spenden ab, die jetzt erbeten werden müssen.

    Und dann kommt abends noch Pawel Schwarz, der Bischof der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (zu dieser Kirche gehört die Gemeinde) in Kiew an. Er berichtet von der Zerrissenheit in der kleinen Kirche, Fraktionierungen dauern an und kosten Kraft und die Einheit. Es gibt landesweit viel zu wenige Pfarrer.

    Diakonische Arbeit entwickelt sich gut

    Während die seelsorgerliche Betreuung schwierig ist und bleibt, entwickelt sich die diakonische Arbeit in der Kirche gut. Dank der Hilfe aus der bayerischen Landeskirche und dem Lutherischen Weltbund können hunderte von Familien unterstützt werden, konnten hunderte von kriegszerstörten Wohnungen in Charkiw wiederhergerichtet werden.

    Kurz vor unserer Abreise Montagabend gibt es noch einmal landesweiten Luftalarm. Die Aufhebung durch die Regierung endet mit den Worten: „May the force be with you.“ Und schon ist sie wieder da, die Normalität.

    Pfarrer Dr. Achim Reis

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